Bei näherem Hinsehen zeigt seine Tätowierung eine Wendeltreppe – und keine Doppelhelix, wie ich immer dachte. Ich fand wohl, Biologie passe besser zu ihm als Architektur. Oder ein Caduceus, zwei Schlangen, die sich um einen Stab winden, ähnlich dem Asklepiosstab, dem Symbol für Heilkunst.
Es ist vielleicht das zweite Mal, dass ich seine Unterarme sehe, denn sie sind – auch im Sommer – meist bedeckt, mit mehreren Schichten Stoff.
Obdachlose tragen ihre ganze Habe bei sich, am Körper und – in seinem Fall – in einem Rucksack. Ich wusste sofort, dass dieser Mann keinen festen Wohnsitz hat. Die dunklen Haare und der Bart sind verfilzt, im Sommer sonnengebleicht; die Haut ist »wettergegerbt«, wie man sagt, fast so ledern in der Erscheinung wie seine alten Militärstiefel.
Ich bin ihm schon oft in meiner Nachbarschaft begegnet, am U-Bahnhof; zumeist streckt er sich im Eingangsbereich oben auf der Treppe, mit dem Ellenbogen auf der obersten Stufe gestützt. Wie ein alter Römer – oder Grieche.
Abgesehen von seiner Verwahrlosung, ist es das Fehlen von Reaktion auf die Passanten, das ihn fremdartig erscheinen lässt. Entrückt. Erhaben, wie ich finde. Ich habe ihn nie lächeln sehen.
Hunde mögen ihn. Er widmet jedem Köter für einige Augenblicke mit beiden Händen ernsthafte Aufmerksamkeit, und tätschelt ihn fast sachlich zum Abschied mit einer Geste, die in etwa sagt: »Lass dich von mir nicht aufhalten.«
Meist führt er leise Selbstgespräche in gutem Oxford English. »Received pronunciation – RP« nannten wir das auf dem Gymnasium. Ganz gelegentlich flucht er plötzlich laut los, ohne erkennbaren äußeren Anlass. Er packt dann schimpfend seine Jacke und seinen Rucksack und wechselt beleidigt das Quartier. Ich konnte nie verfolgen, wohin es ihn dann zieht.
Irgendwann fing ich an, ihm höflich zuzunicken, wenn ich an ihm vorbeigehe.
»Hallo«, sage ich meistens, keine Antwort erwartend.
Eine junge Frau kam eilig aus dem U-Bahn-Eingang hoch, mir entgegen. Sie zog, ohne stehen zu bleiben, ihren Hund von dem Mann weg, rechnete wohl nicht mit dem Widerstand des Tieres und mein Fuß drohte, sich in der Leine zu verfangen. Ich konnte mich nicht befreien und zugleich weiter die Treppe hinabgehen. Ich bin die letzten Stufen des Absatzes hinunter gestürzt.
Dem Hund ist nichts passiert; er geht mit seiner Herrin weiter.
Der Mann mit der Tätowierung hat sich erhoben, ist zu mir heruntergekommen – und streckt mir seine Hand entgegen, ohne mich wirklich anzusehen. »Come on. Get up.«
Ich wische mir den nicht vorhandenen Dreck von der Hand und greife zu. »Danke.«
Der Mann zieht mich hoch, dreht meinen Unterarm hin und her und schaut nach meinem leicht aufgeschürften Ellenbogen.
»Nicht weiter schlimm«, sage ich.
Er nickt. »Good reflexes«, sagt er, und: »Good-bye. Next, please.«
Und ist schon zurück, oben, an seinem Platz.