Diagnostizieren heißt lernen, etwas in Erfahrung bringen und kommunizieren. Naja … Könnte lernen heißen.
Man spricht heute zunehmend vom Lernen als Aushandlung von Bedeutungen (negotiation of meaning). Wir wissen heute, dass wir situiert lernen. In der sozialen Wirklichkeit gibt es meist ein Machtgefälle, sodass wir uns der Bedeutungen derer annehmen, die
- vorne, an der Tafel stehen, während wir sitzen — oder derer, die
- am Bettrand stehen, während wir liegen — oder einfach derer, die
- hinterm Schreibtisch sitzen in einem Raum, in dem wir die Eindringlinge sind.
ExpertInnengläubigkeit.
Das System: „Ich dir geben, was ich für deinen Bedarf halte; du mein Einkommen sichern.“ Da lebt jemand von Krankheit und nicht von Gesundheit, geschweige denn von Heilung. Stichworte Befunds- und Apparate-/Präparatemedizin. Zu wenig Miteinander. Zu wenig Anpassung der Umgebung an die Bedürfnisse Erkrankter. Möglichst viel soll in der Praxis (die Räume meine ich) geregelt werden.
An Diagnosen hängen Schicksale.
Ich arbeite mit „Andersdenkenden“, die sich oft nicht gut ausdrücken können. Eher medizinisch ausgebildete Fachmenschen kommen mit ihren fachspezifischen Klassifizierungen der Wirklichkeit meiner Arbeit häufig in die Quere.
Ich greife mal vor …
Es gibt Aufgaben. Wer sie miterfüllen darf, Teilhabe, wird zu häufig von MedizinerInnen bestimmt, statt von Leuten, die die Diagnostizierten im Alltag — außerhalb der Labore und Tabellen — kennen. Das ist nicht den MedizinerInnen persönlich anzulasten, dass sie „unsere“ Leute nicht kennen. Die MedizinerInnen leiden selbst oft darunter. (Entfremdung vom Produkt, sozusagen. Denn — let’s face it — Medizin ist industrialisiert; da greift Marx.) Und dann geben wir Begleitende, medizinische LaiInnen, die Einschätzungen ab, nehmen Diagnosen vorweg. Und dadurch kommt uns noch mehr Macht zu als wir ohnehin zu viel über unsere KlientInnen haben.
Zwischen dem Ort des Lebens und dem Ort der Diagnosen ist zu viel Abstand zu überwinden. (In Heimen, die ÄrztInnen vor Ort vorhalten ist dieser Weg weniger geografisch als von der Anonymität großer Zahlen getragen. Und Heime dieser Größe bieten oft kaum noch Teilhabe, sind eher auf Pflege konzentriert.)
MedizinerInnen müssten mehr gleichberechtigte Nähe zu ihren PatientInnen pflegen (können). Dann fielen die Diagnosen differenzierter und somit realistischer aus. „Behandlungen“ würden hier und da gänzlich entfallen.
Heilung — so lerne ich zunehmend — hat eher mit Annehmen, Akzeptanz des jeweils ganzen Menschen, als mit Kampf gegen einzelne Symptome zu tun. Diät statt Umstellung
Zurzeit kommen Diagnosen zu oft Verurteilungen gleich, landen in der Anamnese — auf ewig gespeichert, nicht hinreichend hinterfragt — und geben so den restlichen Lebensweg vor. Besonders bei psychiatrischen Befunden.