45. – Gleichnis

Ich reiche ihm die Hand, überflutet von Eindrücken. Diesseits des Landwehrkanals war ich schon des Öfteren gewesen. Aber nie als Kind. „Meen Jong“ hat er immer wieder zu mir gesagt. Obwohl er sonst berlinert. Er sagte es nicht bewusst, das weiß ich. Wahrscheinlich hatte sein Vater ihn so genannt, sein Stiefvater, genau genommen. Und ich habe ihn ja blöderweise ganz zu Beginn gebeten, mich nicht „Siggi“ zu nennen. Das durfte nur Mutti, fand ich wohl, und Mutti ist ja tot. Seine erste Frau.

Ich reiche ihm die Hand und sage: „Tschüß, Papa.“
„Papa“ sage ich zu ihm. Zum ersten Mal. Und er hat einen festen Griff, einen guten Griff. Immer wenn ich an ihn denke, werde ich diesen Griff spüren. Irgendwo zwischen Bestimmtheit, Väterlichkeit und Abschied.
Er hat mir erzählt, dass er anfangs oft in den Reuterkiez gekommen sei, um mich zu sehen. Er habe mich manchmal im Sandkasten spielen sehen. Ich versuchte natürlich, mich an einen Mann zu erinnern im Trenchcoat, der hinter einem Baum hervorguckt.
Vierhundert Meter Luftlinie. Dazwischen der Landwehrkanal. Den Kanal übertrat ich als Kind nicht. Die Straße, in der ich wohnte, endete am Kanal. Eine der Parallelstraßen verband die Ufer des Kanals, aber für mich fing gegenüber schon „der Osten“ an, die DDR. Die Mauer habe ich erst später kennengelernt. Kreuzberg auch. Mutti ging mit mir nie dorthin.

Ich reiche ihm die Hand. „Tschüß, Papa“, sage ich ihm, und: „Tut mir leid.“
„Mach dir keen‘ Kopp. Is‘ schon jut“, sagt er, und sein Griff verrät Wahrhaftigkeit. Er weiß, was ich meine. Er nimmt es mir wirklich nicht übel. Dass Mutti tot ist, dass ich ihn nicht eingeladen habe zur Bestattung. Dass Mutti ja auch gar keine Trauerfeier wollte. Dass wir so nah beieinander gelebt hatten, in derselben Stadt. Und eigentlich ist es ja nicht meine Schuld. Und dass ich einen Bruder habe. Einen großen Bruder. Ich bin 33. Er ist 36. Mein Bruder. Jurist. Keine Kinder. Ich habe drei.
„Setz dir hin, Siegfried, meen Jong. Soll ick nich‘ doch noch’n Bier bestell’n?“, sagt Papa.

Ich lasse seine Hand los. Ich setze mich hin. Ich habe Zeit. Ich habe Zeit.
„‚N bisken vülle für ein‘ Abend, wa‘?“ Sein Händedruck.
„Ja. Echt.“ Ich atme durch. Ich schaue auf die Uhr an meinem Handgelenk und kann die Zeit nicht ablesen. Doch: siebzehn Uhr dreizehn. Es ist noch gar nicht Abend.
Ich sage einfach ab. Sollen die die Lesung doch ohne mich machen. Die haben mich auch schon sitzen lassen. Nein, ich mag nicht anrufen. Die werden schon klarkommen.
„Soll ick Lutz anrufen?“ Er zückt schon sein Handy. „Der kommt bestimmt. Dauert nur ’ne knappe Stunde, dann isser hier. Hab‘ ihm schon Bescheid jegeben.“
Lutz. Ludwig. Sechsunddreißig.
„Nein, Fritz, lass ma‘. ‚Tschuldigung. ‚Papa‘, meine ich.“
„‚N bisken vülle für einen Abend, wa‘, Sohnemann?“ Er steckt das Handy weg.
Papa. Friedrich. Siebenundfünfzig.
Mutti wurde nur vierundfünfzig.
„Ja. Echt.“ Ich bin dreiunddreißig.
Ich will mehr wissen. Über diesen Mann, der sich mit seinem Sohn in einer Kneipe trifft, um ihn kennenzulernen, und dabei im Anzug und Trenchcoat erscheint. Papa ist kein Seemann. Seit vierzig Jahren Berliner, Kreuzberger. Wohnt am Kanal. Seine erste große Liebe ist gestorben. Er hatte sie seit über dreißig Jahren nicht gesehen. Er hat meinen Bruder großgezogen. Sechsunddreißig. Mit Hilfe seiner Eltern, also meiner Großmutter und seines Stiefvaters.
„Gabi! Noch zwei bitte, für mich und mein‘ Jung‘ hier?“ Er ist stolz. Er kennt mich gar nicht.
Ich will mehr wissen über diesen Mann, den ich lieben würde, auch wenn er nicht mein Vater wäre. Er war nie Seemann. Aber er kommt aus der Stadt am Meer, in der mein Lieblingsbier gebraut wird. Und das gibt es hier. Ab jetzt ist es mein Lieblingsbier.

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