Im biblischen Lied der Lieder,
dem weisen König Salomon zugeschrieben,
kokettiert »sie«, sie sei schlicht,
»eine Blume auf den Wiesen des Scharon,
eine Lilie in den Tälern«.
Ich nenne lesend sie »Susanne«,
die mir vorerst fremde, unbekannte Frau.
So mache ich sie mir bekannt,
verfügbar, vertraut. Denn ich weiß:
»Susanne«, das heißt Lilie auf Hebräisch.
Und »Lilies of the Valley«
heißen Maiglöckchen auf Englisch.
Und: Es war Mai, als ich Susanne lieben lernte.
Der Scharon ist eine Ebene, ein Tal in Israel,
am Meer, das »mittelländisch« heißt, weil
es den alten Griechen die Mitte der ihnen
bekannten Welt erschien. Genauer, war’s der »Omphalos«,
ein Stein in Delphi, der ihnen der Nabel der Erde war.
Die delphische Orakelstätte war erst der Gaia,
der Göttin des Erdreichs, dann dem Sonnengott Apoll geweiht.
Die Rakete der elften Apollo-Mission brachte erdfern
einen Mann, den ersten Menschen, auf den Mond.
In seiner dicken, weißen Hülle lebloses Neuland betretend,
sprach er die berühmten Worte in sein Mikrofon.
Es heißt, Susanne ward in jener Nacht gezeugt.
Jesus, den ich nicht immer »Christus« zu nennen im Stande bin,
verglich belehrend auf dem Berg die herrlichen Kleider Salomos
mit den Blumen, den »Lilien« auf dem Feld, und rief so zu
Bescheidenheit und Gottvertrauen auf.
»Sklavenmoral« nennt Nietzsche das, in Selbstverblendung.
Denn auch Nietzsche hatte seine Lou und seine Cosima,
deren beider Unverfügbarkeit sein Untergang bedeutete.
Und: Mehr brauchte er nicht, um zugrunde zu gehen.
Und wenn sie nicht Susanne hieße, und bliebe sie doch »nur«
eine Blume in Scharon, ein Gras auf dem Feld, könnte sie
mir nicht doch der Nabel der Welt, der Erde sein, eben eine
Lilie unter Dornen? Weil ich eine Susanne kannte, und liebte?
Und Apoll wäre mir der Erde zu fern, zu väterlich.
Ein zu großer Schritt. In die falsche Richtung.
Ich suche keinen Vater-Gott in fernen Wüsten.
Ich wandle lieber weiterhin mit kleinen Schritten
dem Rande der mir flachen Erde, dem flüchtenden Horizont
entgegen, und begegne auf Feldern, auf den Wiesen immer wieder
meiner einen Susanne in ihren mannigfachen Gestalten.
Und gehe an ihr zugrunde.