30. – Epilog im Himmel

Als Gott ihm in der Kneipe seines Vaters begegnete, änderte sich etwas in Manfreds Leben. Zuvor hatte er an der Fiktionalität Gottes nie gezweifelt, aber auch nicht an Gottes Wirklichkeit. Wie soll man das nennen, das Erlebnis, die Begegnung, die einen verändert? Das ist doch wirklich, oder? Sicherlich: Das Konkrete der Erscheinung, die Details, das Rauchen, der Bart, so etwas mag Manfred dazuerfunden haben. Aber sobald er es geschrieben sieht, ist es ihm genauso real, wie alles, was er sonst in sein Tagebuch schreibt. Und er überlegt, in welchen seiner Geschichten er Gott nicht begegnet ist.
Er lehnt sich zurück, verschränkt die Finger beider Hände hinter seinem Kopf, und beschließt gähnend: Gott ist Begegnung. Das Gähnen treibt ihm Tränen in die Augen. Religion ist die Kommunikation von Begegnung. Der nächste Text, den er schreiben würde, soll sich dieser These widmen. Alle Orte, an denen sich Menschen treffen, mit Vorsatz treffen, alle Begegnungsstätten sind Kultstätten. Also auch Kneipen. Naja, darüber muss er nochmal gründlicher nachdenken, und bestimmt auch recherchieren, findet er; aber eine Notiz ist ihm das allemal wert.
Genau als er diese Notiz verfertigte, klopfte es an der Tür. Manfred schaute auf seine Armbanduhr. Es war spät. Nach Mitternacht. Oft schläft er schon um diese Zeit. Deswegen wurde wohl auch leise geklopft, statt die laute Türklingel zu benutzen.

Manfred steht im Türrahmen.
Es war Gabi. Sie war hochgekommen, um Manfred mitzuteilen, dass sie ihn liebe, dass er sie nochmal küssen dürfe, dass die Sache mit Gott schon in Ordnung gehe, und dass sie nicht betrunken sei, nur einsam, dass das aber nicht der Grund sei, warum sie sich jetzt an ihn ranschmeiße, und er solle gut schlafen. Sie hatte die Wohnung nicht nur nicht betreten, sie hatte auch keine Reaktion – also auch keine Einladung – von Manfred abgewartet, bevor sie umdrehte und wieder die Treppe herunterging.
Manfred steht im Schlafanzug im Türrahmen, und überlegt, ob das jetzt real gewesen ist.
Die Begegnung mit Gott mag er sich eingebildet oder erdacht haben, aber Gabi, wundervolle, geheimnisvolle Gabi ist aus Fleisch und Blut.
Er hört noch das Hallen von Gabis Schritten im Treppenhaus. Und ein Klack. Das Licht geht aus. Die Abschaltautomatik. Manfred läuft barfuß zum Schalter, um das Relais noch einmal zu aktivieren. Klack.
»Danke«, ruft Gabi, bestimmt schon zwei Stockwerke tiefer.
»Bitte«, reagiert Manfred im Reflex, ein wenig zu laut, denn es ist ja schon spät.
Und er steht im Schlafanzug, während sie wahrscheinlich zurück runter in ihre Kneipe geht, in die Kneipe, die ihren Namen trägt. Hier, im Haus seines Vaters, dessen Wohnung er übernommen hat, als sein Vater die vier Treppen nicht mehr gehen konnte. Manfred wohnt jetzt schon fast hier. Hier kann er gut schreiben.
Manfred sammelt sich. Es ist Dienstag. Heute zapft Gabi selbst. Und er war nicht, wie gewohnt, unten gewesen, fällt ihm nun auf. Sie wird ihn vermisst haben. Wahrscheinlich gab es keine Kundschaft; aber Gabi würde auch durchaus Kundschaft allein im Laden lassen. Oder alle rausschmeißen. Wenn ihr danach ist. Auch das nähme ihr nie jemand übel. Sie ist der Herr im Haus, und alle lieben sie. Manfred hat sich schon eine Jeans über die Schlafanzughose gezogen, als er sich eingesteht: Auch er liebt sie. Einen Kapuzenpulli übergezogen, Sandalen über die Füße gestülpt, die Schlüssel gegriffen, und er schwebt die Treppen herunter, ohne die Wohnungstür hinter sich zu zu ziehen.

Er folgt dem Geruch ihres Parfums. Marzipan – oder vielmehr: Mandeln. Und etwas, das er nicht zuordnen kann, das ihn aber an ein Kindheitserlebnis in einem Garten erinnert, an Spätsommer.
Bei jedem Treppenabsatz fühlt er sich leichter.
Wie bei Gedichten. Mit jedem Absatz ist einer Idee Luft gegeben, Atem eingehaucht, und erst das gesamte Gedicht erzählt die ganze Geschichte. »Story« auf Englisch heißt sowohl Geschichte (im Sinne von Erzählung) als auch Stockwerk. Für diesen Einfall hat er eineinhalb Stockwerke gebraucht, also drei Absätze.
Keine Zeit für Notizen.
Beim nächsten Absatz: Gabi trägt nie Absätze. Nur flache, sportliche Schuhe. Absätze würden ihren Hintern zu sehr betonen, meinte sie einmal.
Der Gedanke an Gabis Hintern trägt ihn ohne weitere poetische Betrachtungen noch zwei Absätze weiter und bei den letzten Stufen ist er fast schon wieder in jener Art von kreativem »Flow«, die er oben müde genossen hatte – bis Gabi klopfte.
Erdgeschoss.

Der hintere Eingang zur Kneipe ist zu. So schnell kann Gabi nicht gewesen sein. Ist sie vorne herum gegangen, über die Straße? Er tastet nochmal nach den Schlüsseln in seiner Hosentasche und geht auf die Straße. Die schwere Altbautür fällt gedämpft ins Schloss. Das Geräusch erinnert ihn an eine Geschichte, die er letztes Jahr geschrieben hat.

Von außen scheint die kleine Kneipe geschlossen zu sein. Keine Beleuchtung. Er klopft an der Tür. Nichts zu hören.
Er geht einen Schritt zurück und schaut sich links und rechts auf der Straße um. Niemand. Eine leere Frühherbststraße in Kreuzberg. Mitten in der Nacht.
Er hat oben die Wohnungstür offen gelassen, nur Sandalen an.

Wo ist Gabi hin? Wo wohnt sie eigentlich? Was weiß er denn überhaupt über sie?
Er mag ihre herbe Schönheit, ihre lebhafte, lebendige weibliche Leiblichkeit; er weiß, dass sie über vierzig aber eigentlich alterslos ist.
Er will sie. Aber was genau will er von ihr? Wirklich nur ihren Körper, wie sie kokett nach seinem Kuss letzte Woche unterstellt hat? Warum rennt er ihr hinterher?
Sie meinte, sie liebe ihn. Er hatte nie auch nur andeutungsweise etwas in die Richtung geahnt, seine Schwärmerei, die er angesichts des Altersunterschieds für kindisch hielt, für sich behalten. Bis vor einer Woche. Da brach es aus ihm heraus. Und er küsste sie. Und es wunderte ihn dann eher, dass sie ihn hatte gewähren lassen. Danach haben beide keine Silbe darüber verloren. Bis eben, an der Tür oben. Die noch offen steht.

Er sieht sich noch einmal um. Niemand in der Straße. Er lauscht. Da wird gesungen, in der Kneipe um die Ecke, im »Alt-Berlin«. »Kreuzberger Nächte sind lang«. Wie poetisch. Schon muss er gähnen.
Er hört, dass jemand in die Kneipe geht, oder raus; die Tür war kurz auf, und der Gesang, nun, das Gegröle, war kurz lauter, und Worte des Refrains waren zu verstehen: »… erst fangse janz langsam an. Aber dann … Aber dann …«
Er wartet kurz, ob jemand um die Ecke käme. Nicht, dass er glaubt, Gabi könnte bei der Konkurrenz eingekehrt sein. Die Verfolgung hat er aufgegeben. Er will wohl einfach jemanden sehen in der leeren Straße.
Ein kleiner Hund, ein Pudel kommt um die Ecke.

»Hallo«, ruft Manfred, »wie geht’s? Immer noch in Kreuzberg unterwegs, was?«
Der Pudel antwortet nicht, kommt aber schon auf Manfred zu.
»Ein Pudel. Wie faustisch!«, lacht Manfred halbherzig, eigentlich frustriert. Manfred geht diskret in die Knie. Leiser: »Guten Abend. Hast Du Gabi gesehen? Ich meine, kannst du mir sagen, wo sie hin ist?« Der Pudel schaut sich um und schüttelt den Kopf. Gott kann als Hund nicht sprechen. Irgendwie albern, denkt Manfred, aber konsequent. Selbstauferlegte Realität. Immerhin kein computergenerierter Schwachsinn für Kinder, denkt Manfred.
Gott kläfft freundlich. Und schmiegt sich an Manfred, der sich seufzend an den Straßenrand setzt, um Gott mit beiden Händen zu streicheln. Manfred mag Pudel. »Komm her, du Sohn einer Hündin!« Manfred findet sich witzig. Aber Gott ist jetzt ein Kater und schnurrt. Ohne Vorwurf. Dennoch sagt Manfred: »Ist schon klar: Ich rede zu viel. Tut mir leid.«
Und endlich heult sich Manfred die Augen aus dem Kopf.

Die Hand an seiner Schulter spürt er zwar, dreht sich aber erst um, als er die Tür des Hauses zufallen hört. Gabi steht über ihn gebeugt. Im Nachthemd. Oder so etwas Ähnlichem. Er kann ihre Brüste sehen. Ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte, so ohne BH. Noch schöner.
»Musst du mir immer auf die Titten glotzen?«, sagt sie irgendwie unschuldig-kokett, wie nur sie das kann, und setzt sich neben ihn.
Sie nimmt Manfreds Angebot an, zieht seinen Kapuzenpulli über.
Er mag noch nicht zurückgehen in die Wohnung seines toten Vaters, die trotz Renovierung nach Zigaretten riecht, nach Asche und Tod. Und während sie noch am Straßenrand sitzen, lädt Gabi ihn ein, zu sich in ihre Einzimmerwohnung im ersten Stock, in der sie sonst nur montags schläft, nach dem Zapfen. Ihr gehöre das ganze Haus, erzählt sie ihm. Eine Firma kümmere sich um die Mieter. Das hat Manfred nicht gewusst. Er hatte sich nur über die geringe Miete gewundert.
»Du bist eine gute Partie«, sagt Manfred. »Ich will doch nicht nur deinen Körper.« Sie lachen.

Sie sitzen am Straßenrand, und reden; das Nachthemd-Ding guckt unter dem Kapuzenpulli hervor, und ihre Beine, die er nie hat sehen können, weil sie immer Hosen trägt. Ihre wunderschönen Füße. Lackierte Fußnägel. Sie wackelt mit den Zehen. Sie genießt seine Blicke.

Plötzlich fällt ihm auf, dass der Kater weg ist – und auch kein Hund in Sicht. Gott ist nicht mehr bei ihm. Womöglich aber doch.

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