Ich kann mich an die erste Begegnung mit ihm nicht erinnern, nicht so, dass ich davon in anekdotischer Form erzählen könnte. Mein ältester Sohn, mein „Erstgeborener“, wie man sagt, war bereits neun Jahre alt und hatte zwei Geschwister. Ich war 33 Jahre alt und kannte mich selbst nur als Einzelkind, empfand mich auch als Waise. Nun war ich doch wieder Sohn – und Bruder.
Mein leiblicher Vater hatte mir die Telefonnummer seines Sohnes gegeben, meines Bruders; das weiß ich noch. Aber mein Bruder, Lutz, hat am folgenden Tag dann mich angerufen, und wir trafen uns sofort spontan auf ein Bier. Ich war krankgeschrieben; Lutz konnte seine Arbeit frei einteilen, war für Notfälle allerdings in einer Art Notbereitschaft per Mobiltelefon.
Ich weiß, dass wir über meine Mutter sprachen, unsere Mutter, die tot war, und die ich nun teilen musste.
Ich saß in dem Café um die Ecke und wartete auf ihn. Ich warte immer auf ihn. Ihm ist wichtig, erwartet zu werden.
Ich erkannte mich wieder in seinem Gang; in seinen Augen sah ich meinen zweiten Sohn, den Kämpfer. Die Art wie er sprach hatte etwas von meiner Mutter, unserer Mutter, die er kaum gekannt hatte. Das Heben der Brauen bei kleinen Sprechpausen. Meine Tochter, mein jüngstes Kind, macht das auch. Davon habe ich ihm erzählt, als er einmal fragte, warum ich lächelte.
Trotzdem hatte ich anfangs ständig den Impuls, Lutz zu siezen.
Er trug meinen Geburtsnamen, den ich abgelegt hatte, als ich geheiratet hatte. Nun, nach der Scheidung, überlegte ich, meinen Geburtsnamen wieder anzunehmen. Die Bekanntmachung mit meinem Vater und meinem Bruder verzögerte allerdings die Entscheidung eher, denn ich wollte nicht den Anschein erwecken, es wegen ihnen zu tun.
Ich bin mir sicher, dass wir schon bei diesem ersten Treffen Gemeinsamkeiten suchten und fanden.
Wir hatten beide Musik gemacht, beide als Jugendliche Gitarre gelernt und gesungen. Aber das hatte mir auch mein Vater vorher erzählt. Unser Vater. Der Musikgeschmack war nicht derselbe. Und im Gegensatz zu mir hatte Lutz nie selber komponiert.
Wir haben dasselbe Tierkreiszeichen, interessieren uns aber beide nicht für Astrologie, geschweige denn Horoskope.
Erst beim Abschied merkte ich, dass er etwas kleiner ist als ich. Ich erinnere mich an meine Enttäuschung, die ich lächerlich fand, und über die ich auf dem Heimweg lachen musste. Ein kleiner großer Bruder.
Erst bei einem späteren Treffen, aber nicht dem nächsten, fragte ich ihn, ob er das von Manfred wisse. Da hatte ich auch Manfreds Geburtsurkunde bei. Lutz hatte nicht gewusst, dass für Totgeborene Geburtsurkunden ausgestellt werden. Er fragte mich, ob ich mehr darüber wüsste, über die Geburt. Ich konnte ihm nur das mitteilen, was der Urkunde eh zu entnehmen war. Nicht einmal der Stempel vom Krankenhaus war lesbar, stellten wir fest. Er überlegte, Papa darüber zu befragen, da er davon gewusst haben müsse, verwarf aber den Gedanken, als ich ihm erzählte, dass wahrscheinlich Manfreds Tod zur Scheidung unserer Eltern geführt habe.
Ich zeigte ihm die Daten auf den anderen Urkunden.
„Das macht Sinn“, nickte er, „Siegfried, das macht Sinn.“
Er grinste: „Schau, Siegfried: Ihr hättet am selben Tag Geburtstag, Manfred und du. Ich habe an Elvis‘ Todestag Geburtstag; kannste dir merken. Wusstest du, dass Elvis einen totgeborenen Zwilling hatte?“
Das hatte ich nicht gewusst.
„War der vor oder nach Elvis geboren?“, fragte ich.