Warum schreiben wir Geschichten, die sich eines Protagonisten und eines Antagonisten bedienen?, fragte sich Siegfried. Vor allem in episodisch erzählenden Gattungen. Gut gegen Böse; ich und der andere; ich und der Widersacher.
Der Held sollte zweifelsohne der Identifikation dienen, um der Erzählung eine Perspektive, einen Fokus zu verleihen. Der Zuschauer wurde dadurch emotional an die Geschichte gebunden. Der Held war das Ich, sinnierte er.
Wozu aber der Bösewicht?
Die Worte „Protagonist“ und „Antagonist“ deuteten der Herkunft nach auf eine Nähe zum Begriff des Kampfes: In beiden sei „Agon“ enthalten, altgriechisch für „Kampf“, „Wettkampf“ auch „Versammlung“. Das hatte er nachgeschlagen.
Dies bot eine mögliche Perspektive auf alles nur erdenkliche, stellte er fest: Wenn Geschichten spektakulär sein sollten, wenn die Hauptfigur gut aussehen sollte, brauchten die Erzählenden einen Zweikampf, einen Showdown am Ende, bei dem der Held, die Identifikationsfigur, natürlich gewann. Ohne Widersacher hätte das (meist nur einstweilige, spannungssteigernde) Scheitern des Helden sonst auf sein eigenes Versagen zurückgeführt werden können – und man hätte einfach nicht gewusst, wann die Episode sich dem Ende näherte.
Entspringt nicht sogar die ganze Vorstellung vom Anderen als dem Bösen eigentlich dem Widerstreben, einzugestehen, dass Scheitern durchaus durch eigene Begrenztheit verursacht worden sein kann?, fragte sich Siegfried.
So erklärte er sich Heikes Bemühen, alles, was er tat und je getan hatte, auch im Nachhinein, abzuwerten. Aus ihrer Verletztheit heraus verkehrte sie nun – eben auch nachträglich, rückwirkend – alles an ihrer Beziehung in einen Kampf, weil es für sie keine Gleichberechtigung mehr geben konnte. Sie war die Gute, er der Böse. Sie hätte eben sonst ihren eigenen Anteil am Scheitern der Ehe eingestehen müssen.
„Diese Stadt ist nicht groß genug für uns beide“, hieß es im Western. Und nach dem finalen, erlösenden Showdown blieb ja auch nur einer der Duellisten übrig.
Aber das Leben war eben kein Western, wusste Siegfried, eher eine Oper: „Die Vorstellung ist nicht vorüber, bis die dicke Dame singt“, sagten die Amerikaner. Damit sollte wohl gesagt sein, dass der Ausgang der Geschichte noch nicht abzusehen sei, dass es noch Wendungen in der Handlung geben könne. Es wurde davor gewarnt, voreilig den Tag vor dem Abend zu loben.
Obwohl sie zusammen gewohnt hatten, waren beide, Heike und er, sehr darauf bedacht gewesen, ihre Lebensräume sonst nicht zu stark überschneiden zu lassen, sich nicht vom anderen abhängig zu machen. Kaum gemeinsame Anschaffungen; getrennte Bücher- und CD-Regale: Es war immer klar, was wem gehörte, wer was im Trennungsfall behalten würde. Nichts war in ihrer Beziehung so gut geregelt gewesen, wie die eventuelle Trennung, die dadurch zur lauernden, allmählich zunehmenden Gewissheit wurde.
Dabei hatten sie kaum jemals lautstark gestritten. Worum auch? Wenn Paare sich stritten, ging es meist um Verlustängste: Verlust der Liebe des Partners oder Verlust der Anerkennung der eigenen Liebe zum anderen. Beides hatten die beiden von Anfang an vorweggenommen.
Und jeder hatte von sich selbst glauben können, jeweils derjenige zu sein, der mehr für den anderen opferte, da man ja jeweils in Vorleistung ging und mehr gab, als der andere forderte. Dabei übersahen sie allerdings, dass keiner von beiden überhaupt je Ansprüche gestellt, oder Forderungen formuliert hatte.
Für das fortschrittliche Paar, das keine bürgerlichen Rollenklischees hatte bedienen wollen, war nichts selbstverständlich, alles war verhandelbar. Es musste aber letztendlich eben auch alles verhandelt werden. Bei solchen Verhandlungen (die auch nur eine zahme Form des Kampfes darstellten, konstatierte er) ging es um die Herstellung einer Symmetrie, einer Gleichberechtigung. Niemand sollte dem anderen etwas schulden. Er hatte das damals noch vernünftig gefunden; heute wirkte es auf ihn irgendwie … krank. Denn gerade durch diese Sorgfalt waren er und sie einander eine Menge schuldig geblieben.
Taktik, Pokern, Kampf: Er hatte von Anfang an in Kauf genommen, dass diese Eigentümlichkeit ihrer Beziehung ihrer Liebe Grenzen setzen würde. Hatte er sich wirklich zugetraut, mit solchen Einschränkungen leben zu können? Er hatte sich jedenfalls vorgenommen, dann eben genug Liebe für beide aufzubringen. Er hatte eine Familie haben wollen, sie wollte Partnerschaft. Sie war im Grunde bescheidener, realistischer, wenn auch aus Angst.
Das Bedingungslose, das Absolute, das er oft vertreten und irgendwann begonnen hatte, im Glauben und in der Kunst, zu suchen, bereitete ihr Unbehagen. Sie, die pragmatische Realistin, konnte nichts damit anfangen. Und so hatte er sie auf diesem Weg nicht mitnehmen können.
Aus ihrer Perspektive wurde erst mit der Trennung die ganze, bis dahin mühsam aufrechterhaltene Symmetrie gebrochen; alles geriet in ein Ungleichgewicht.
Sie zeigte sich verhandlungsbereit, aber er hatte einfach nichts mehr zu bieten, das er noch hätte einsetzen können. Da sie einiges zurückgehalten hatte, konnte sie, im Gegensatz zu ihm, noch auf Reserven zurückgreifen. Sie hatte schon immer besser gehaushaltet. Wenn auch aus Angst.
Sein Hang zum Ewigen war sein Betrug, stellte er fest. Nicht die neue Frau an seiner Seite.