29. – Feierabend

Ich sehe Gabi hinterm Tresen stehen. Alle haben die Kneipe verlassen. Gott auch, aber nicht als Letzter. Es ist vielleicht zwei Uhr.

Feierabend. Während sie aufräumt, denkt Gabi nach über Sintflut. Ob die Menschen das alles wert sind. Was alles? Hier heulen sich alle aus, und sie muss sich das anhören. »Gott« hat die Klappe gehalten. Und auch zugehört, nicht ihr, aber wenigstens den anderen. Gott. Wer war eigentlich auf die Idee gekommen, den Typen »Gott« zu nennen? Sie kann sich gar nicht erinnern, wie er hier reinkam, »Gott«.
Manfred hatte damit angefangen. Manfred erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Wobei Manfred ja immer schon nach zwei Bieren geht, selten bleibt er für ein drittes. Hartmut, Manfreds Vater, hat mehr Durchhaltevermögen gehabt. Und trank auch schneller. Das glich sich aus, und meistens gingen sie dann gemeinsam.
Manfred war heute wieder komisch drauf. Letzte Woche schon. Da hat sie sich von ihm küssen lassen. Aber nicht nur weil sein Vater gestorben war.
Ein schöner Kuss war das. Bestimmt und unentschlossen zugleich. Vielsagend. Wie ein Gedicht. Ehrlich.

Bodo kommt jetzt auch nicht mehr.

Eigentlich könnte Gabi den Laden jetzt wirklich dichtmachen. Wo es doch kaum noch Stammgäste gibt. Dauergäste. Insassen. »Insassen« sagt man auch zu Leuten, die im Auto sitzen. »Fahrzeuginsassen«. Gabi mag keine Autos. Gabi mag Schiffe, Boote.

Gabi überlegt, was das bedeutet, wenn das wirklich Gott war. Warum wäre er in ihre Kneipe gekommen? Wegen der »Samstagsregelung«? Samstags Ruhetag. Sabbat. Das war doch eher ein Spaß. Da gab es früher so einen Insassen, der hatte ziemlich plattes antisemitisches Zeugs erzählt, hatte auf »jüdische Großgrundbesitzer« geschimpft, und war regelmäßig samstags in der Bar gewesen. Und hatte Humor, verstand den Wink, und kam dann immer sonntags. Sogar entschuldigt hat er sich. Persönlich bei Harry. Der war tatsächlich jüdischer Abstammung gewesen und besaß damals wirklich etliche Immobilien in der Gegend.

Gabi vermisst Harry nicht mehr. Das war eine kurze Ehe, und sie ist jetzt fast länger Witwe als sie Harry überhaupt kannte. Zumindest fühlt es sich so an. Sie trägt jetzt seinen Nachnamen, und diese Kneipe hier ihren Vornamen. Sie weiß nicht mehr, was sie damals miteinander verband. Gabi mag ihre »Stieftochter«, die in demselben Alter ist, wie sie. Amy. Amelie. Amy ist, wie Gabi, unehelich geboren, und Harry hat Amy allein erzogen. Das hatte Gabi imponiert. Wenn es Amy nicht gäbe, hätte Gabi jetzt noch mehr Geld am Hals. Gabi hat keine Gewohnheiten, die es ihr erleichtern, das geerbte Geld schneller auszugeben als es sich vermehrt. Also kann sie die Kneipe auch behalten, lächelt Gabi.

Und wenn Manfred sie nochmal küssen sollte, würde sie sich vielleicht mehr reinknien. Das war ein schöner Kuss. Gabi schaut in ihr Dekolleté und macht einen Knopf zu. So ein Junger, Hübscher … Gabi hat ja auch Hartmut attraktiv gefunden, aber der hat immer nur seiner ersten Frau, Manfreds Mutter, hinterhergetrauert. Und ist ihr wohl gerne gefolgt. Nach zwanzig Jahren. Im Grunde geht es Manfred ja nicht anders. Gabi weiß nicht, ob es ihr recht ist, dass Männer von ihren mütterlichen Seiten angemacht werden. Kann sie noch eigene Kinder kriegen? Mitte vierzig. Sie dreht sich zum Spiegel hinter dem Tresen und schüttelt ihre Brüste. Der wird sie nochmal küssen! Der Knopf geht wieder auf, und sie muss laut lachen. Und weinen. Wann das Lachen sich in Weinen verwandelt, spürt sie nicht genau. Es gibt keinen Unterschied, manchmal. Da ist sie, die Sintflut, die alles Irdische vertilgt. Denn sie hätte Harry gerne richtig kennengelernt. Richtig liebengelernt. Und nicht nur eine Tochter geerbt.

Ich höre Gabi weinen – oder lachen. Und morgen werde ich sie küssen. Morgen. Bevor ich mir ein drittes Bier bestelle. Bestimmt.

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