35. – Kriegskind

Das war Verwesungsgeruch; jetzt weiß ich das. Süßlich-bitter. Ich hatte etliche Male vor der Tür gestanden, geklingelt. Auf abgerissenen Ecken von Werbeprospekten meine Telefonnummer gekritzelt und um Rückruf gebeten. Seine Adresse hatte ich mir vom Meldeamt geben lassen. Als dann ein Anruf kam, nach einigen Wochen, war es von der Kripo; man fragte mich, in welchem Verhältnis ich zum Verstorbenen stünde.
Meine Mutter, seine kleine Schwester, war gestorben, und das hatte ich ihm mitteilen wollen. Natürlich nicht auf einem unter die Tür durchgesteckten Zettel, sondern persönlich. Er hatte sie um ein halbes Jahr überlebt, aber sie hatten sich seit bald zwanzig Jahren nicht gesehen oder gesprochen. Und ich hatte mir die Hoffnung gemacht, von ihm etwas über meine Kindheit zu erfahren, ein paar Lücken zu schließen.
Als ich etwas später mit einem der Hausmeister des Sozialbau-Komplexes, den ich als Zeugen hatte mitnehmen sollen, die Wohnung betrat, war der Geruch noch nicht verflogen, obwohl Onkel Georg zehn Tage zuvor abgeholt worden war. Die Fenster waren so weit auf, dass Tauben sich in der Einzimmer-Wohnung aufhielten. Sie fühlten sich schon so heimisch, dass einige, statt gänzlich davonzufliegen, nur Platz auf den Fensterbrettern nahmen, und uns misstrauisch beäugten. Andere tummelten sich gelassen zwischen einem Meer aus grünen und braunen Bierflaschen und einem Berg aus blauen und roten leeren Tabaktüten, beides wohlsortiert nach Marken und Größen. Am Ende des Zimmers ragte ein weißer Kühlschrank mannsgroß über das alte Bett mit der durchgelegenen Matratze. Dort war er nicht gestorben, hatte man mir geschrieben, sondern in der Kochnische, wo der Leichnam auch ausgelaufen sei. Der Nische näherte ich mich gar nicht erst. Sonst keine Schränke, keine Regale im Zimmer. Nur das Bett, der Kühlschrank und ein alter Sessel. Die Wände kahl. Weiß und kahl.
Ich sagte meinem Begleiter, dass ich wohl gar nicht erst nach Unterlagen zu suchen bräuchte. Er nickte. Er war es dann, der mir auf meine rhetorisch in den Raum gestellte Frage sagte, dass es sich um Verwesungsgeruch handele. Er sei diesmal aber nicht dabei gewesen, als die Wohnung aufgebrochen worden sei. Aber er habe schon Schlimmeres gesehen – und gerochen. Ich drehte mich zu ihm. Ich kannte ihn seit drei Minuten, und er legte seine Hand auf meine Schulter. Er suchte Trost.

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