142. – Kreuzwege

Heißt Kalle Karl oder Karsten? Und: mit C oder mit K? Ich weiß es nicht. Womöglich weder noch … Er hat nämlich früher in der Karl-Marx-Straße gewohnt, in dem Abschnitt, der bis in die Zwanziger oder so »Berliner Straße« hieß.
Komisch, dass ich immer das Gefühl habe, dass die ganzen »Berliner Straßen« nicht nach Berlin, sondern von Berlin weg führen. Vielleicht weil die Straßen, die nach Städten oder Landstrichen benannt sind, meist von einem Ortskern zu den titelgebenden Orten hin führen und mein Hirn nicht umdenken mag. Die Berliner »Berliner Straßen« befinden sich allesamt in Gebieten, die zur Benennungszeit noch außerhalb der Stadt lagen.
Als Kind war ich oft in der Karl-Marx-Straße. Mit meiner Großmutter, meist zum Einkaufen. Es gab dort viele Schuhgeschäfte. Der Vater meiner Großmutter sei Schuster gewesen, heißt es, ein Volksdeutscher aus dem heutigen Gebiet Kaliningrad, damals, zwischen den Kriegen, Königsberg, Ostpreußen. Meine Großmutter, die Älteste von zehn Kindern, wurde noch dort geboren und getauft. Die Ortsnamen wurden unter den Nazis mehrmals geändert, oder zumindest die Gebietsaufteilungen und -zuordnungen. Nach dem letzten Weltkrieg blieben fast keine Deutschen in dem Gebiet, das dann russisch wurde.
Und »die Russen«, wie meine Großmutter immer sagte, kamen dann nach Berlin und vergewaltigten sämtliche Schwestern meiner Großmutter, alle vier. Meine Großmutter wohl auch, kann man annehmen, aber das hat sie nie erzählt. Eine Schwester wurde verrückt, eine andere nahm sich das Leben. Zwei Brüder fielen im Krieg auf russischen Feldzügen.
Über Kalle weiß ich, dass er ein Russenkind ist. Seine Mutter nahm sich das Leben, als er gar nicht wie ihr Mann aussah, und er wuchs bei seiner Großmutter auf, oder genauer: bei der Mutter des Gatten seiner Mutter, der nur kurz genug aus dem Krieg heimkam, um Kalle als ehelich anzuerkennen, und dann für immer fortzubleiben. Die Familie, auch ehemalige Ostpreußen, hatte ein Lederwarengeschäft in der Karl-Marx-Straße, allerdings in dem Abschnitt, der »Bergstraße« geheißen hatte. Die Familie war bekannt mit der meines Großvaters.
Ich kannte als Kind den Nachnamen von Kalle, habe ihn vergessen, bin mir aber sicher, dass es nicht »Marx« ist. Kalle und mein Onkel haben als Kinder zusammen in den Ruinen gespielt, und beide blieben kinderlos.
Immer wenn ich Kalle in seiner Stammkneipe antreffe, gebe ich ihm ein Bier aus, zu Ehren meines Onkels.

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