109. – Vom Schweben des Teppichs

Vor mir meine Brille. Zusammengelegt, auf den Bügeln liegend. Gerade so weit von meinen Augen entfernt, dass ich nicht schielen muss, um sie zu erkennen. Der Teppich drückt mir schwer in die Wange, und ganz leicht aufs rechte Auge, das dadurch ein wenig verschlossen bleibt. Ein Perser. Von meiner Großmutter geerbt. Ich versuche, mir das Muster vorzustellen, und auf welchem Teil der Schlingen und Blüten und Kurven mein flach liegender Körper das Muster ergänzt. Beim Blinzeln kämmen meine Wimpern die feinen Borsten.
Ich spüre meinen gespannten Nacken, und korrigiere meine Stellung. Nur minimal. Den rechten Arm näher an den Körper, das linke Bein mehr angewinkelt. Nun drückt meine Ohrmuschel in das alte Gewebe, aber ohne zu schmerzen.
So lausche ich dem Teppich – und rieche ihn. Jeder Atemzug lässt mich von ihm aufsteigen, mit ihm aufsteigen, in ihn versinken.
Die linke Hand flach bei der Brille liegend, die Fingerkuppen vielleicht einen Zentimeter entfernt. Ich strecke die Finger, ohne die Hand zu heben.

Als Kind habe ich Filme gesehen, die im fernen alten Orient spielten, Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Und Geschichten wurden mir aus reich bebilderten Büchern vorgelesen. Von Aladin und Ali Baba. Ich hatte damals noch nicht gewusst, dass Scheherazade eigentlich um ihr Leben erzählte, indem sie geduldig mit Geschichten die Verbitterung des Königs überwand.
Ich versuche, mir die Geschichten und die Illustrationen ins Gedächtnis zu rufen. Und ich rieche sie im Teppich, höre in ihm die Stimme meiner Großmutter.

Und bin erhaben wie ein Dschinn.

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