_Zoll_(Versuch)_

Ich schwöre. Ich hatte gerade einen Schluck genommen. Meinen ersten. Okay, es war erst das zweite Glas.
“Das Ding da, eine Zeitmaschine?”, fragte Maddy ihn. So hatte sie sich ihm vorgestellt. Vielleicht auch „Maggie“. Sie hatte einen süßen englischen Akzent. Ganz leicht. Seinen Namen hatte ich nicht mitbekommen. Ich wollte mich umdrehen, hab es dann aber nicht gemacht. Ich wollte mich nicht aufdrängen, wollte nicht auffallen.
Sie hat wahrscheinlich auch so gemerkt, dass ich aufhorchte. (Ich hab jetzt aber auch nicht mein Bier ausgespuckt oder so, so wie man das aus Filmen kennt.)
Seine Reaktion konnte ich nicht hören. Er sprach leise, saß die meiste Zeit mit dem Rücken zu mir und es war ein bisschen was los hier, vor allem drüben am Fenster; Lizz hatte viel zu tun. Ich komm vor allem wegen Lizz her.
Maggie lachte. “Ist das ein Würfel? Alle Seiten gleich. Hm. Aber ohne die Zahlen …” Sie fand das Ding schon interessant. Ich nahm an, dass sie das Ding jetzt in der Hand hielt und von allen Seiten betrachtete. “Ist hohl, oder? Gezinkt. Würfeln kann man damit nicht. Warum kribbelt die so? Voll schwer! Witzig. Ist die irgendwie aufgeladen? Komische Größe.”
“Genau ein Zoll. Ein Inch. Alle Seiten.” Dieses Gespräch führte er nicht zum ersten Mal.
Ich überlegte, ob ich aufs Klo gehe, oder so tue, damit ich das Ding, den Würfel, sehen kann und ich war mir auch nicht sicher, in was für einem Verhältnis die beiden zueinander standen, wie sie überhaupt aussehen. Aber mein Glas war fast voll. Vielleicht war das ja irgendwie einstudiert. Zeitmaschinen. Von wegen. Oder so ‘ne Art Improvisation. Oder versteckte Kamera. Aber die waren ja so plötzlich weg.
Sie waren nicht zusammen reingekommen. Er hatte sich zuerst an den Tresen gesetzt. Da. Ich habe hier gesessen. Zwischen uns war dann noch ein Hocker, über den er seine Jacke hängte. Und auf den hat er sich gesetzt, als sie dazukam.
Ich hatte gehört, wie er das Ding beim Hinsetzen abgelegt hatte, auf den Tresen. Mit einem Seufzer. (Er seufzte viel.) Es klang wie ein Schnapsglas, oder eher wie ein Whiskeyglas vom Gewicht her; er hatte aber noch nicht bestellt.
“Ich hab nicht gesagt, dass es eine Zeitmaschine ist, sondern dass ich mit ihr in die Vergangenheit reise; das ist nicht dasselbe.”
“Warum ist das Ding eine Sie?”
“Weiß nicht. Du hast ’sie‘ gesagt. Ich sage immer ‚es‘. Und mein Vater hat auch immer ’sie‘ gesagt. Er hat sie auch ‚Maschine‘ genannt. Wenn er Deutsch gesprochen hat. Aber ich halt nicht. Ist ein Es. Für mich.”
Ein bisschen nervte mich sein Geseufze.
Am Fenster gab es Gelächter und ich verstand erstmal nichts. Ich glaube, er sprach kurz vom Tod seines Vaters, jedenfalls irgendwas mit „vorletzte Woche“. Und dass er es gerne mit rein geworfen hätte. Ins Grab, nehme ich an.
Wieder Gelächter.
„Kannst Du damit auch Leute mitnehmen? Mich?“, fragte sie. Ich konnte keine Ironie heraushören.
Gelächter.
“Nee, Adolf umbringen ist nicht. Das fragen alle. Ich kann nur meine eigene Vergangenheit besuchen. Ich muss in meiner Nähe bleiben. Sie auch. Er. Der Würfel. Das Ding. Die Maschine. Muss in meiner Nähe bleiben. Sonst kriege ich üble Kopfschmerzen. So … ‘ne Armlänge, hier, in dieser Zeit. Unterwegs lässt sie sich nicht bewegen. Da kann ich mich schmerzfrei völlig frei bewegen. Glaube ich, bis jetzt, jedenfalls. Mein Englisch ist so schlecht und sie ist sprachgesteuert.”
Da musste ich dann lachen. Ich habe nach den Leuten am Fenster geschaut. Und als ich mich wieder zu Maggie und ihm drehte, waren beide weg.

2022-05-13

Omi wäre heute hundert geworden, fiel mir beim Morgenkaffee auf, den ich mit der, der ich angetraut bin zu trinken pflege.
Im Freundeskreis ist Arschloch Krebs mal wieder zugange.
Ich gehe derzeit die alten Unterlagen durch, die Omi und ihre Tochter, Mutti, mir hinterlassen haben. Dokumente und Fotos. Ich nutze die neuen digitalen Möglichkeiten, Telefonbuch-Archive der Landesbibliothek, zum Beispiel, und HistoMapBerlin, um die vor etlichen Jahren gesammelten Daten zu aktualisieren und zu prüfen, die ich jetzt in die Cloud transferiert habe, damit ich immer darauf Zugriff habe. Es zeigen sich kleine Fehler.
Ein Beispiel: Meine Großeltern haben vor der Geburt meiner Mutter mit meinem Onkel in der heutigen Karl-Marx-Straße 39 („Berliner Straße 88“) gewohnt und nicht in der 49, wie ich damals notierte. Danach am Mehringdamm (der zuvor Belle-Alliance-Straße hieß). Beide Straßen wurden 1947 umbenannt, sagt Wikipedia, und neu durchnummeriert. In den Unterlagen kommen beide Straßen mit jeweils den alten und den neuen Namen und Nummerierungen vor. Kurios.
Ich wohne an der Kirche, in der meine Mutter getauft wurde, stellt sich heraus. Das klingt normal, ist aber ein absurder Zufall (es sei denn, Du glaubst nicht an solche Zufälle). Denn wir wohnen hier, weil die Wohnung der, der ich angetraut bin von ihrer Arbeitgeberin zugeteilt wurde. Residenzpflicht. Wir ziehen oft um. Ich habe in Berlin in etlichen Bezirken gelebt (und in den USA; Stiefvater, Dad, war Soldat).
Ich glaube nicht an Ahnenkult, an die in unserer Kultur überbetonte Relevanz von Erbe für die Identität. Ich glaube an Fürsorgegemeinschaften. Ich stehe sogar Biografien kritisch gegenüber. Artifizelle Kontinuitäten. Flussbegradigungen. Patriarchat. Meine Forschungen betrieb ich damals nämlich zuerst für meine Omi, die in eine Einrichtung verlegt werden sollte, die mit Biografie arbeitet, um mit der Demenz der Klient:innen umgehen zu können. Würde. Mutti, ihre Tochter, bat mich darum, das in die Hand zu nehmen, denn da war sie schon befallen vom Arschloch. Und weil sich das nicht sinnvoll trennen lässt, haben wir Muttis Biografie gleich mit bearbeitet. Mutti wollte, zeigte sich, auch ihr eigenes Leben entwirren.
Omi wurde gar nicht mehr verlegt. Sie starb auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Tochter.
Und jetzt habe ich diese ganzen Daten an der Backe, an deren Relevanz ich stark zweifle. Ich hatte sogar gelernt, deutsche Handschrift zu lesen.
Omi starb nicht an Krebs.
Whatever.
Ich mache seit einigen Jahren Sport, damit ich zum Beispiel eine Chemo halbwegs überstehe. (Oder wegrennen kann, wenn hier Krieg ausbricht und ich einen Soldaten geohrfeigt habe. Was weiß ich. Ich meine das nicht rational. Drei Klimmzüge müssen einfach drin sein. Wenn die Aufzüge nicht mehr funktionieren.) Eine, damit ich etwas Zeit schinde. Für Dich, im Grunde; was mich angeht, kann ich gehen. Buch geschrieben, Bäume gepflanzt und Euch gibt es auch. Check, check, check. Zwei Chemos gäbe ich mir nicht, so lieb ich Dich hab. Na, vielleicht zwei.

Post~

Das Präfix „Post~“ besagt doch nicht so sehr, dass das um ihn durch die Voranstellung Erweiterte in dem Sinne überwunden sei, dass es vorbei sei, also der Vergangenheit angehöre, sondern dass es soweit reflektiert worden sei, dass sich schon Leute identifizieren lassen, die sich in Bezug auf das Erweiterte im jeweils akuten Diskurs nicht auf dem aktuell höchsten gemeinsam zugänglichen Reflexionsniveau äußern.

[Mai 2017]