135. – Pforte

Herr P. macht sich auf. Er hört zufrieden das Schnappen seiner Zimmertür hinter sich. Sein Ausflug ist angelegt als Bummel, als Flanerie. Er wird sich des Konsums enthalten, aber dennoch in den Kaufhausabteilungen den Anschein von Interesse wahren, das weiß er schon. Unbekannt ist Herrn P. hingegen noch, welche Schaufenstermeilen, -arkaden und -passagen und -center dieser Stadt am Ende dieses Herbstnachmittags und -abends er durchschritten haben wird. Herr P. sehnt sich nach den anonymen Massen, nach den Touristengruppen, und ihren fremden Sprachen und Intonationen. Sein neues Hörgerät, das er seit einigen Wochen hat, ist auf optimale Sprachverständlichkeit hin eingestellt. Jahrelang hatte er Stimmen nur dumpf-verzerrt vernehmen können. Doch die heutigen, digitalen Hörgeräte ermöglichen eine solch präzise Ausrichtung auf bestimmte Frequenzgänge, dass er meint, heute besser hören zu können, als zu Jugendzeiten. Er hat sich dem Musikgenuss noch nicht gewidmet. Zu vielschichtig sind die Klanggebilde der Orchester und Big Bands, die er früher gerne hörte, vor seinem Hörsturz vor vierundzwanzig Jahren. Nein, es ist der Klang von Stimmen, von schwingenden Stimmbändern und resonierenden Körperhohlräumen, der ihm heute Musik in den Ohren sein soll. Und der Klang von scharrenden Füßen wird ihm heute das Ballett ersetzen, das er früher mit seiner Frau besuchte, anfangs nur ihr zuliebe. Seine Frau. Er hat sie gestern im Nachbarzimmer besucht; sie hat ihn nicht erkannt, nur auf seine weißen Haare gestarrt. Ganz stumm. Er versucht, sich an ihre Stimme zu erinnern, und kann es nicht. Er wickelt sich den von ihr liebevoll genähten Schal enger um den Hals, während er in den Fahrstuhl steigt, und meint dabei, sich singen zu hören. »Strangers in the Night«. Gerne würde er besser Englisch können. Wie seine Enkel. Herr P. steigt aus dem Fahrstuhl und beschließt, sich im Rathaus ein Kursverzeichnis der Volkshochschule abzuholen. Dort ist seit Neuestem auch nebenan eine Einkaufsmeile untergebracht, die seinen Ansprüchen heute voll und ganz genügen wird. »Lauschen wir den Engländern«, sagt er zu sich selbst, und »Good Afternoon!« zum Pförtner. Sein Gehstock hallt ein letztes Mal im Hauflur, und das Rauschen der Straße flüstert ihm süße Nichtigkeiten in sein Ohr (»sweet nothings«). Herr P. lockert seinen Schal noch einmal ein wenig, rückt seinen Hut zurecht. Das automatische Schließen der Haustür nimmt er nicht mehr wahr.

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