ich frage ihn nochmal nach dieser Sache mit den irrealen Zahlen, wie das gehen kann, dass die Wurzel eines Wertes negativ sein kann, wo doch die Multiplikation sowohl zweier positiver Zahlen als auch zweier negativer Zahlen, also erst recht zweier gleicher Zahlen immer ein positives Produkt ergibt. Das Wort »Produkt« braucht eine Weile, denn ich habe schon fast zwei Bier getrunken und überhaupt: Schule ist schon verdammt lang her. Er wiegelt ab, wedelt dabei mit seiner brennenden Zigarette und sagt: »Also ehrlich, damit hatte ich nichts zu tun.« Gott hat Humor, denke ich, und er raucht. »Na klar, hab’ ich Humor!«, sagt Gott. Worauf ich mich frage, wozu Gott Humor denn braucht, wenn Humor doch nur ein Abwehrmechanismus ist, um die Wirklichkeit besser zu ertragen. Aber ich finde es verdammt höflich, dass er mich immer aussprechen lässt. Ich lächle ihn an. Er ist doch ein alter, bärtiger Mann, wie ich es immer altklug bestritten habe. »Och, Manfred, ›alt‹. Das ist doch relativ«, sagt er. Jedenfalls unrasiert, aber immerhin ohne Wolke, denke ich. Gabi bringt nun das dritte Bier. Sie stellt erst schüchtern seins hin, dann meins. Sie neigt sich zu mir und raunt mir ins Ohr: »Das ist Gott.« Gott muss natürlich schmunzeln, ob ihres Taktgefühls. Gabi war bis vor einer Woche Atheistin. Und nun erzählt sie mir, mit wem ich rede. Sie fand vermutlich meinen laxen, drängenden Ton unangebracht. Während Gott mit der linken Hand seine Zigarette zu Munde führt und daran zieht, berührt seine rechte kurz liebevoll ihre Schulter, und eine Träne erscheint in ihrem Auge. Ich denke, er hat sich so bedankt, oder es war seine Art, die Rechnung zu begleichen. Oder beides. Sie geht zurück hinter den Tresen. »Ein kleines Stückchen Erleuchtung«, sagt er flüsternd, mir wieder zugewandt, und er schmunzelt wieder. »Sie kann es gebrauchen.« Mir wird unwohl. Meint er nur sie? Nichts in seinem Blick verrät Vieldeutigkeit. Ich möchte nicht berührt werden. Gott klopft die Asche seiner Zigarette im Aschenbecher ab. Schweigen. »Also, über Mathematik möchtest du mit mir nicht reden?«, frage ich, schon etwas irritiert. Gott pustet langsam den Rauch seiner Zigarette durch Nase und Mund aus und schüttelt leicht den Kopf. »Nein, Manfred, über Mathematik möchtest du nicht reden.« Er klopft wieder die Asche seiner Zigarette im Aschenbecher ab. Völlig klar: eine Provokation. Er sieht mich an. Wenn auch scheinbar beiläufig. Mein Atem entgleitet mir kurz. Ich bin noch nicht so weit. »Weißt du, dass Gabi eigentlich ›Gabriele‹ heißt?«, sagt Gott plötzlich. »Das ist die weibliche Form von ›Gabriel‹. Das Ding, das du letztens über Gabriel geschrieben hast, das gefällt mir ganz gut.« Er ist gnädig; er will, dass ich anfange. Bald hat er mich so weit, ich weiß es. Mir fällt dann ein, dass ich Gabi letzte Woche ›Engel‹ genannt habe. Ich schaue zu ihr rüber. Und dann geht es wieder. »Du meinst ›GUT‹. Naja«, stammle ich in gespielter Bescheidenheit, plötzlich schüchtern. Gott hat meinen Text gelesen. »Ich kenne alles von dir, Manfred. Das mit dem Titel hättest du aber sein lassen können.« Schmeicheln, um jemanden zu gewinnen, das kennt man ja. Er zieht nochmal an der Zigarette. Diesmal sieht er mich dabei an. Ich denke kurz, dass ich ihm sagen sollte, dass dies eine Nichtraucherkneipe ist, und dass es jetzt in Deutschland neue Regelungen zum Nichtraucherschutz gibt, und dass meine Eltern beide Kettenraucher waren, und dass ich ihn hasse, weil er mir beide genommen hat, und dass er auch Krebs kriegen soll, und dass er da sitzt, wo mein Vater immer saß. Doch da kommt Bodo durch die Tür, und Gabi formt überdeutlich mit dem Mund von hinterm Tresen die Worte »DAS IST GOTT« und nickt diskret in unsere Richtung, während sie so tut, als würde sie ein Glas gegen das Licht halten, um seine Sauberkeit zu prüfen. Und Gott und ich schauen uns an – und lachen. Und Bodo setzt sich zu uns. Und gibt uns einen aus. Und es wird ein wunderbarer Abend.