50. – Opfer

Sowohl Ophelia als auch Gretchen gehen zugrunde. Sie scheitern an den tragischen Helden, an deren Unentschlossenheit, an deren Verblendung. Don Juan kennt kein Gegenüber; er ist ein Herausforderer ins Leere. Am Ende öffnet sich die Erde und der „steinerne Gast“ zieht ihn hinab. Wie das „Ewig-Weibliche“ am Schluss von Faust: „hinan“, dachte ich beim ersten Lesen, damals. Aber „hinan“ bedeutet eher „herauf“ als „hinab“. Warum habe ich das immer falsch verstanden?
„Halb zog sie ihn, halb sank er hin“, heißt es woanders bei Goethe. Vielleicht deswegen.
Und bei Marlowes Faustus: „Was this the face that launch’d a thousand ships / And burnt the topless towers of Ilium? / Sweet Helen, make me immortal with a kiss.“
„Du siehst mit diesem Trank im Leibe / Bald Helenen in jedem Weibe“, sagt der Ankläger zum Wetteinsatz. Und danach erst taucht Gretchen auf in diesem Drama, nach über 2600 Zeilen. Rund 2000 Zeilen verbleiben ihr, der im klassischen Sinne tragischen Figur. Gretchens Spuren in „der Tragödie zweiter Teil“ weisen dann jedoch über das Gesamtwerk, also auch über Helena, hinaus.
Weder Faust noch Mephistopheles sind in irgendeiner Weise an Gretchens Rettung beteiligt. „Deus ex Machina“ sagt man dazu. Gretchen wird zuletzt gerettet, da sie nicht der Wetteinsatz war. So einfach ist das.
In „Manfred“, Byrons Faust, sah Nietzsche den ersten Übermenschen („superman“ auf Englisch), ein Vorbild für seinen Zarathustra. Nietzsche übersah den schuldbeladenen Manfred, der die sieben Geister ruft, um zu vergessen, um nicht mehr sehen zu müssen.
Manfred entgeht nicht der Höllenfahrt, der vor Goethe alle Faust-Figuren anheimfielen. Wie konnte Nietzsche das nicht erkennen? Oder war das Absicht? Sein Zarathustra steigt vom Berg hernieder. Zu uns, im Grunde. Zu uns in die Hölle?
Die Cherubim, die unter der Aufsicht des Erzengels Gabriel mit Feuerschwertern den Zugang zum Baum des Lebens bewachen, sehen aus wie Sphinxen.
„Wollust ward dem Wurm gegeben, / und der Cherub steht vor Gott“, heißt es bei Schiller. Wurm, Schlange, Drache, Sphinx. Und Engel? Wäre Oedipus dann gar kein Drachentöter? Die Sphinx stürzt sich immerhin selbst von den Mauern des siebentorigen Theben. Sinnbild für ein Scheitern an Familie, dachte ich. Aber ich bin mir nicht mehr sicher. Vielleicht einfach eine Selbstaufopferung zugunsten eines Lernschrittes.
Am Schluss ist Faust blind, wie Oedipus.
Sowohl „Oedipus auf Kolonos“ als auch „Faust II“ sind Alterswerke ihrer Schöpfer, beide postum veröffentlicht. Wie die „Bakchen“ des Euripides, in dem Oedipus‘ Urgroßvater, Pentheus, von seiner Mutter und seinen Tanten zerrissen wird. Bei Euripides sind die Frauen geblendet – vom Rausch. Und gerade Euripides ist derjenige, der die Erzähltechnik des „Deus ex Machina“ am großzügigsten gebraucht. Bis zuletzt. Wohin zieht uns nun das Weibliche?

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