39. – Freier Himmel (Aura)

Ich habe irgendwo gelesen, vielleicht bei Walter Benjamin, dass ein Problem unserer Kultur (der westlich-europäischen, kapitalistischen) der Verlust von Mythos sei. Also im Gegensatz zum Logos, der überrepräsentiert sei. Ich neige zu Zustimmung. Das Buch von Dawkins, „Der Gotteswahn“, das ich mag, und ja irgendwie auch richtig und wichtig finde, zeugt davon: ich nenne es „Ratio-Kitsch“ in meinen flüchtigen (und dadurch auch irgendwie auratischen?) Journal-Einträgen. Erkenntniskleinteiligkeit verhindert den Blick aufs Gesamtbild. Warum sollte ich mich für eine Weltsicht entscheiden, die den Großteil der Menschen, die Gottgläubigen, ausschließt?
Ich habe einige Semester Psychologie studiert. Eine wichtige Erkenntnis ist für mich die gewesen, dass wir wolkenartig wahrnehmen und lernen. Erst die Begrifflichkeiten geben dem Erleben die etwas festere Konsistenz. (Nietzsche hatte das schon erkannt. Ich bin aber zu faul, das jetzt zu belegen.) Der Austausch macht das Erlebte weniger austauschbar, sozusagen. Das geht bis hin zu den Emotionen, die kulturell, beziehungsweise sozial konstruiert sind, ganz und gar nicht biologisch-medizinisch determiniert.
Sogar Schmerzempfinden ist an Rückkopplung von außerhalb des gereizten Organismus gebunden. Indem die subjektive Komponente des Schmerzes von außen, also kulturell, von frühester Kindheit an nicht verstärkt wird, kann in ganzen Landstrichen Afrikas ohne Schmerzbehandlung im Dorfzentrum unter freiem Himmel zum Beispiel der Schädel eines erwachsenen Besessenen geöffnet werden, ohne dass dieser, oder auch nur einer der circa dreißig Zuschauer, auch nur eine Träne vergießt. Bei dem Fernsehbericht sah ich, dass die Menschen durchaus liebevoll mit ihren Kindern umgingen. Das Hirn des Geöffneten durften sie allerdings nicht berühren. Sie könnten sich anstecken.

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