Was man über Bodo wissen muss, was aber keiner wusste: Er war schon lange krank. Todkrank eigentlich. Schon seit drei Jahren hatte er heimlich darauf gewartet, dass seine Prognose (»höchstens ein halbes Jahr«) sich endlich erfülle, und er seinen verdienten Tod antreten könne. Manfreds Vater, ein Kneipengeselle Bodos, hatte seine Prognose ja weit unterboten – obwohl er sie später erhalten hatte als Bodo – und war nun seit knapp einer Woche unter der Erde.
Bodo litt nicht sehr, nicht körperlich. Er war gut eingestellt mit Schmerzmitteln, und man hatte sich nie getraut, ihm das Trinken zu verbieten. Geraucht hatte er eh nicht. Die Kombination von Alkohol und Schmerzmitteln wirkte Wunder, möchte man sagen. Er fand eine neue Offenheit, eine Großzügigkeit, die er zu gesunden, stoffeligeren, nüchterneren Zeiten nie gepflegt hatte. Aber ihn plagte tief im Innersten eine gewisse bange Ungeduld, eine Unruhe, da er wusste, dass es nicht immer schmerzfrei vonstatten gehen würde.
Die bevorstehende Begegnung mit Manfred war Bodo nicht recht. Manfred hatte sich angekündigt, für heute, Montag, obwohl er sonst nur dienstags mit seinem Vater in Gabi’s Bar gesessen hatte. Bodo fühlte sich nicht bereit, Manfred sein Beileid auszusprechen; er spürte es nicht in sich. Und er wollte nicht lügen. Er beneidete Manfreds Vater.
Bodos Gesundheit hatte schon angefangen, zusätzlich zu leiden unter seinem schon gar nicht mehr so neuen, großzügigen Lebenswandel; und seine finanziellen Mittel würden bald aufgebraucht sein. Aus einem waren sieben halbe Jahre geworden.
Sollte er wieder umkehren? Er beschloss, lieber eine Querstraße weiter, in Kurt’s Stube einzukehren, einer Raucherkneipe. Dort war das Publikum zwar jünger, und die Musik einen Hauch zu laut, aber immerhin war das Bier besser.
Auf halbem Wege fiel ihm ein: Es war Montag. Ruhetag.
Montags Ruhetag. Dabei heißt es doch: »Am siebenten Tage sollst Du ruhen.« Montag war der zweite Tag! Da wurden Himmel und Erde getrennt. Ruhetag. Überall, außer bei Gabi. Montags zapfte Gabi persönlich. Und dienstags (da waren Erde und Meer dran, wusste er). Und er wurde schließlich erwartet. Also riss er sich zusammen. (»Komm, Bodo, ist doch kein Ding. Lügste halt mal.«)
Als er durch die Tür trat, vollführte Gabi hinter der Theke wirre Gesten, die er nicht zu deuten vermochte. Er zögerte. Sie nickte in Richtung des Tisches, an dem Manfreds Vater stets sein Bier zu trinken gepflegt hatte. Dort saß Manfred an seinem Dienstag-Platz im Gespräch mit einem rauchenden Fremden. Bodo wurde mulmig. Er schaute nochmal zu Gabi. Die formte nun recht deutlich mit dem Mund die Worte: »DAS IST GOTT.«
Das ist Gott? Darf er deswegen hier rauchen?
Manfred und Gott lachen. Bodo weiß nicht, worüber.
Gott. Bodo grinst. Warum nicht?
Bodo geht rüber zu Manfred. Wenn Manfred lacht, sieht er seinem Vater ähnlich; Bodo boxt Manfred in die Schulter. »Tut mir leid wegen deinem Papa. Komm, ich geb’ einen aus«, sagt Bodo; dann in ironisch-getragenem Ton zum rauchenden Fremden: »Und siehe, es war sehr gut.« Der rauchende Fremde nickt nur mild, irgendwie nachsichtig, packt Bodo freundlich – aber kräftig – an der Schulter, und sagt leise, verschwörerisch grinsend: »Tut mir auch leid wegen Manfreds Papa.« Plötzlich lachen beide; kein Mensch weiß, warum. Bodo reibt sich seine schmerzende Schulter und wischt sich eine Träne weg. Alle lachen. Sogar Gabi, die jetzt ganz schön zu tun hat.
Bodo war großzügig. Wenigstens heute sollte das hier Gott sein. Sagen wir, als »Hilfsannahme«. Gott war ihm eh schon immer fremd gewesen. Über die ersten paar Sätze der Bibel hatte er nie hinaus gelesen. Gott raucht. Egal. Heute war Bodos Tag. Montag. Er grinste. Alle Rechnungen des Abends würden auf ihn gehen. Morgen – oder übermorgen – würde er mal nachlesen, was am vierten Tage geschah, versprach er. Gott oder sonstwem.
Was soll man noch erzählen? Natürlich starb Bodo am siebenten Tag. Wie es neben der Tür von Gabis Kneipe steht: »Samstags Ruhetag.« Sabbat, halt. Ob Bodo in der Bibel auch so weit gekommen ist, werden wir nie erfahren. Wir wünschen es ihm. Prost.